Bildung nach Corona
Bildung ist mehr als Ausbildung und muss für alle verfügbar sein, sagt Schulbischof Wilhelm Krautwaschl und betont den Wert der "echten" Gemeinschaft in Zeiten des zunehmenden Egoismus.
Das Corona-Virus hat die Bildungs- und Ausbildungslandschaft auf den Kopf gestellt. War diese bisher vom direkten Kontakt zwischen Lernenden und Lehrenden geprägt, so waren Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Aus- und Weiterbildungen plötzlich nur mehr über einen Bildschirm miteinander verbunden. Die gewohnte soziale Interaktion mit Freundinnen und Freunden war auf der einen Seite ersetzt durch Distanz und Einsamkeit. Auf der anderen Seite waren Eltern plötzlich mit Betreuungs- und Schulaufgaben konfrontiert, die nicht zu ihrer Tages- und Wochenstruktur gehörten. Das Spannungspotenzial, das durch diese familiäre Konzentration auf die eigenen vier Wände entstanden ist, ist in der Gesellschaft spürbar. Die in den verschiedenen pädagogischen Berufen Tätigen – vom Kindergarten über Schule und Hort bis zur Erwachsenenbildung – standen vor ungeahnten Herausforderungen; speziell dort, wo persönliche Nähe im täglichen Umgang selbstverständlich und wichtig für das gedeihliche Heranwachsen sind.
Eine Reaktion auf diese neue Normalität war zuerst Starre. Dann fragten wir nach technischen Lösungen, wie wir die Bildung aufrechterhalten können. Zusammen mit den technischen Voraussetzungen entstanden an allen pädagogischen Wirkfeldern neue Zugänge auf Basis von Videokonferenzen und virtueller Einzelbetreuung. Lehrende, Betreuerinnen und Betreuer in Krippen, Kindergärten, Schulen und Universitäten, Kleinkinder, Schülerinnen und Schüler, Studierende und Eltern leisteten in einer völlig neuen Bildungsumgebung Großartiges und dafür möchte ich als Schulbischof allen ein herzliches „Vergelt‘s Gott“ sagen. Die fast wichtigste Frage stellte sich allerdings als letztes: Wie geht es den Menschen mit dieser Situation?
Gegeneinander statt miteinander?
Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Psychotherapie und Familienberatung der Diözese Graz-Seckau, mit Seelsorgerinnen und Seelsorgern, mit Lehrenden und Eltern, Erfahrungen in den Schulämtern und Schulen der österreichischen Diözesen sowie Darstellungen in den Medien zeigen eine klare Antwort: Viele kommen mit den neuen Herausforderungen gut zurecht – aber viele bleiben auf der Strecke, kämpfen mit Depressionen, Sorgen, Existenzängsten. Frisch inskribierte Studentinnen haben noch nie eine Vorlesung und die reale Universitätsatmosphäre erlebt. Schüler vermissen seit Monaten die Freunde im Klassenverband. Der griechische Philosoph Aristoteles bezeichnete den Menschen als Zoon politikon, als „soziales Wesen“, das in Wechselwirkung mit anderen nach einem „guten Leben“ strebe. Reduziert auf das Ich am Computer steigt hingegen der Egozentrismus in der gesamten Gesellschaft, droht das Gemeinwohl der eigenen Meinung und den eigenen Bedürfnissen zu unterliegen. „Die Spannungen, die von einer überzogenen individualistischen Kultur des Besitzes und des Genusses in die Familien hineingetragen werden, bringen Dynamiken der Abneigung und Aggressivität hervor“, warnte Papst Franziskus schon vor fünf Jahren im Apostolischen Schreiben Amoris leatitia (33), unter dessen Zeichen dieses Jahr steht.
Bildung oder Ausbildung?
Wenn wir über eine Zeit nach oder mit Corona sprechen, müssen wir auch über die Bildung in dieser Zeit sprechen. Dann müssen wir bedenken, dass Menschsein und dass Bildung mehr ist als eine Ausbildung, wie sie von der Wirtschaft so vehement gefordert wird. Bildung im humanistischen Sinne heißt nicht nur, mit Zahlen jonglieren, programmieren oder unzählige Sprachen perfekt zu können und viel zu wissen. Bildung spiegelt auch eine geistige, moralische und ästhetische Entwicklung wider, die den Menschen befähigt, als Zoon politikon, als soziales Wesen eingebettet in eine Gemeinschaft zu deren Fortschritt beizutragen. Der Mensch ist mehr als nur er selbst, so der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl. Deshalb brauchen wir das reale Miteinander und einen Wertekanon, der von Wertschätzung, Vertrauen, Toleranz, ja Nächstenliebe geprägt ist. Als Christen sind wir zutiefst überzeugt, dass jeder Mensch Abbild Gottes ist und in ihm eine Würde grundgelegt ist, die vor jeder Leistung zählt.
Konkret müssen wir uns also fragen, wie wir den jungen Menschen vom Kleinkind bis zur Studentin in einer Pandemie ein [Lern-]Umfeld bieten, in dem sie sich als soziale Wesen bestmöglich entfalten können; in dem es ihnen gut geht. Dazu gehört mehr als nur die Technologie, um in Verbindung bleiben zu können, die es aber gleichzeitig ermöglicht, diese Verbindung nur vorzutäuschen. Dazu gehört mehr als das Lösen von Aufgaben im Alleingang oder in einer überforderten Familie. Dazu gehört eine lebensbejahende und beziehungsfördernde Bildungskultur von der Krippe über Kindergarten und Schule bis zur Universität, von der Elementarpädagogik bis zur lebenslangen Erwachsenenbildung. Dazu gehören interdisziplinäre Dialoge und Kreativprozesse, die jene Innovationen auslösen können, die unsere Wirtschaft dringend braucht. Dazu gehören Initiativen zum Schutz unseres gemeinsamen Hauses, unserer Schöpfung, wie sie Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato si einfordert. Dazu gehört auch das reale gemeinsame Feiern von Erfolgen und die geteilte Freude über Gelungenes ebenso wie das real geteilte Leid bei einem Missgeschick. Dazu gehört vor allem eine Umgebung, in welcher der persönliche Kontakt und die gelebte soziale Interaktion möglich bleibt.
Niemanden ausschließen
Gerade deswegen rief Papst Franziskus im Oktober 2020 zu einem „weltweiten Bildungspakt“ auf, dem eine „Erziehung zur Geschwisterlichkeit“ zugrunde liegt anstatt der Konkurrenzkampf von Individuen und der helfen solle, die Welt „menschlicher“ zu machen. 250 Millionen Mädchen und Buben seien weltweit aufgrund fehlender technische oder finanzieller Möglichkeiten durch Corona von jedweder Bildungsaktivität ausgeschlossen, betonte der Papst. Das Problem kennen wir auch in Österreich und hier gilt es dafür zu sorgen, dass niemand von der Bildung ausgeschlossen ist. Denn mit einer Bildung, die die Würde des Menschen zum Inhalt hat, die neugierig macht und die zeitgemäßes Wissen vermittelt, steht oder fällt unsere Zukunft.
Zu Pfingsten vor einem Jahr hat sich die Bischofskonferenz in einem gemeinsamen Hirtenwort für eine „geistvoll erneuerte Normalität“ ausgesprochen (https://bit.ly/2QZey7t). Wir haben darin Dankbarkeit und Demut ebenso benannt wie Versöhnung und Verbundenheit, Aufmerksamkeit und Solidarität, Wertschätzung und Lernbereitschaft, Achtsamkeit und Entschlossenheit, Lebensfreude und Geduld sowie Vertrauen und Zuversicht. Heute, nur knapp eineinhalb Jahren nach Beginn der gesellschaftlich betrachtet größten Krise seit Jahrzehnten, gibt es Impfstoffe und eine erneuerte Normalität wird zunehmend zur Wirklichkeit. Ringen wir geduldig und gemeinsam darum, dass diese neue Realität auch geistvoll wird – in der Bildung und allen anderen Lebensbereichen.
+Wilhelm Krautwaschl, Diözesanbischof und Referatsbischof für Schule und Bildung
Artikel zuerst erschienen auf: https://www.katholische-kirche-steiermark.at/